Schatzhaus – Wunderkammer

Wie andere Repräsentationsräume war auch die Wolfenbütteler Hofbibliothek fast drei Jahrhundert Teil des obligatorischen Besichtigungsprogramms für Fürstinnen und Fürsten, Prinzen und Prinzessinnen, Abgesandte anderer Höfe und andere Vertreter des Adels. Natürlich interessierten sich nicht alle diese Besucher*innen für Bücher. Für alle, die nicht aus gelehrtem Interesse, sondern aus Pflicht oder Neugierde kamen, gab es schon früh eine Reihe von raren oder kuriosen Schaustücken, mit denen die Bibliothekare die Besichtigung unterhaltsam gestalten konnten. Dazu gehörten seltene Drucke und kostbarste Handschriften ebenso wie ungewöhnliche Bilder und Objekte von berühmten Vorbesitzern. Die Bibliothek war immer auch Schatzhaus, Wunderkammer und Kunstkabinett.

Unter den Seltenheiten der Bibliothek wird ein Kalender gezeigt, den eine Person ohne Hände und Füße mit dem Munde geschrieben haben soll; die Schrift und die Himmelszeichen sind wie der sauberste Druck – glaube, wer da kann, diese unglaubliche Sage!

Elisa von der Recke, Tagebuch (1791)

Reiseziel Bibliothek

In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurde die Bibliothek für eine breite Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Von dem großen Interesse an den Schätzen der Bibliothek zeugen die zahlreichen Einträge in den Besucherbüchern, die seit 1667 bis heute geführt werden.

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Protestantische Reliquien

Seit Herzog Julius 1568 die Reformation in seinem Staat eingeführt hatte, war das lutherische Bekenntnis ein wichtiges Element der politischen Identität. Auch deswegen wurden den Besucher*innen der Bibliothek seit dem 17. Jahrhundert „Luther-Reliquien“ gezeigt.

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Grafische Kabinettstücke

Im späten 17. und 18. Jahrhundert wurden Besucher*innen oftmals sogenannte Mikrographien vorgelegt: Diese Bilder, oft Porträts, sind aus Linien zusammengesetzt, die sich bei näherem Hinsehen – manchmal ist eine Lupe notwendig – als winzige Schrift erweist. Der Text besitzt meist einen inhaltlichen Bezug zur dargestellten Person.

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Bibliophile Kostbarkeiten

Einige der herausragenden buchgeschichtlichen Raritäten waren und sind nicht nur Forschungsgegenstand, sondern faszinieren bis heute ein interessiertes Publikum.

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Einzigartige Pretiosen

Einige besonders außergewöhnliche Bücher gelten als „unbezahlbar“. Ihr Alter, ihre Ausstattung oder ihre historische Bedeutung machten und machen sie zu begehrten Exponaten – und heute auch zum Gegenstand einer gesteigerten konservatorischen Aufmerksamkeit.

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Wunderliche Bibelstellen

Die große gesellschaftliche Bedeutung der Religion in der Vormoderne bedingte, dass Normabweichungen mit besonderer Aufmerksamkeit wahrgenommen wurden. Die Wolfenbütteler Bibliothek überraschte ihre Besucher*innen mit ungewöhnlichen Bibeln.

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Prominente Außenseiter

Einige Schaustücke der Bibliothek verdankten ihre Faszination vor allem der Person, die sie fabriziert hat.

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Teure Geheimnisse

Zwischen 1648 und 1654 ließ Herzog August mit zeitweise bis zu 20 Schreibern politische Dokumente aus Pariser Bibliotheken kopieren. Für die einst 400 handgeschriebenen Bände in feinstem Maroquinleder zahlte er den enormen Preis von 25.000 Talern. Weil auch Dokumente aus der Bibliothek des Kardinals Mazarin abgeschrieben wurden, werden sie als „Mazarinen“ bezeichnet. Inhaltlich besaßen die einstmaligen „Staatsgeheimnisse“ bereits Ende des 17. Jahrhunderts kaum mehr Relevanz. Aufgrund ihres Preises und ihrer kostbaren Anmutung blieben sie dennoch lange eine Hauptattraktion der Bibliothek.

In den Besucherbüchern finden sich die Namen vieler berühmter Gäste wie z.B. Voltaire, der die Bibliothek am 17. Oktober 1743 besichtigte.

Besucherbuch der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel, Bd. 3 (11. Januar 1726 – 30. Juli 1769). HAB: BA I, 152

Der Dichter Friedrich von Matthisson besuchte die Bibliothek am 23. April 1794.

Besucherbuch der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel, Bd. 5 (10. Februar 1787–10. Juli 1825). HAB: BA I, 154

Seine Eindrücke vom Besuch publizierte Matthison in seinen Memoiren.

Friedrich von Matthisson: Erinnerungen, Bd. 1, Zürich: Füssli 1810. HAB: S: Töpfer 252

Reiseberichte und Reisehandbücher wie der berühmte Baedeker machten die Bibliothek und ihre Sammlung auch außerhalb gelehrter Kreise bekannt.

Karl Baedeker (Hrsg.): Mittel- und Nord-Deutschland. Handbuch für Reisende, 17. Aufl. Koblenz: Baedeker 1876. HAB: M: Cc 34

Schon im 16. Jahrhundert waren gedruckte und gemalte Porträts von Luther aus der Werkstatt von Lucas Cranach weit verbreitet.

Lucas Cranach d. Ä. und Werkstatt: Bildnis des Martin Luther, Mischtechnik auf Holz, Wittenberg, 1526, 18,8 × 12,7 cm. HAB: B 96

In Wolfenbüttel hat sich ein Doppelbildnis des Reformators und seiner Frau Katharina von Bora erhalten.

Lucas Cranach d. Ä. und Werkstatt: Katharina von Bora, Mischtechnik auf Holz, Wittenberg, 1526, 19,0 × 12,6 cm. HAB:B 94

Einzigartig ist das Tintenfass, das Luther der Legende zufolge nach dem Teufel geworfen haben soll, als dieser den Reformator bei der Arbeit zu stören versuchte.

Sogenanntes Tintenfass Luthers, Blei und Weichlot, undatiert (verm. 17. Jahrhundert). HAB: KGS 3

In den sogenannten Lutherlöffel wurde die Jahreszahl 1552 eingraviert. Da war Luther bereits sechs Jahre tot, doch wurde dieses Besteck immer als Gegenstand aus dessen Besitz gezeigt.

Sogenannter Lutherlöffel, Silber, 1552(?). HAB: KGS 2

Noch im 20. Jahrhundert hing ein Brief Luthers in der zentralen Halle der Bibliothek. Darin äußert der Reformator keine Gedanken zu Theologie oder Kirchenpolitik, sondern bedankt sich für den Erhalt eines Stücks Käse.

Martin Luther an Herzogin Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg, 4. September 1538 (sog. Käsebrief). HAB: Cod. Guelf. 254.1 Helmst.

Als Beleg der göttlichen Zustimmung zur lutherischen Lehre galt ein Exemplar des populären Paradiesgärtleins des Pfarrers Johann Arndt, das ein Feuer unbeschadet überstanden haben soll.

Johann Arndt: Paradiß Gärtlein/ voller Christlicher Tugenden, Braunschweig: Duncker 1676. HAB: M: Th 94

Die aufwändige Darstellung Luthers ist aus den drei großen Glaubensbekenntnissen der christlichen Kirche gebildet, dem athanasischen, dem apostolischen und dem nizänischen Credo.

Christian Daniel Briegleb: Doctor Martinus Lutherus in das Glaubensbekenntnis des heiligen Bischofs Athanasii gekleidet, Federzeichnung, 1768, 21,3 × 30,5 cm. HAB: IT 107

Im Bildnis des jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn ist u. a. zu lesen: „Es lebe der Herr Mendelson in Seeligkeit – Gott selbst schütze sein seeliges Leben/ als einen Propheten von Gott gesant/ preiset Ihn dass ganze Vater Land/ Ihn schätzt das ganze Reich.“

Unbekannter Künstler/Schreibmeister: Porträt des Moses Mendelssohn, Federzeichnung (Mikrographie), o. J., 4,0 × 2,8 cm. HAB: A 27073a

Das Schreibmeisterblatt des württembergischen Mikrografen Johann Michael Püchler (1679–1709) zeigt den protestantischen Theologen Philipp Jacob Spener (1635–1705). Haare, Kleidung und Mühlsteinkragen sind aus Bibelversen gebildet.

Johann Michael Püchler: Porträt des Philipp Jakob Spener (Mikrographie), Federzeichnung o. J., 15,9 × 11,0 cm. HAB: A 20693

Die im Kloster Weissenburg (Elsass) hergestellte Abschrift der Enzyklopädie des Isidor von Sevilla gehört zu den ältesten Handschriften der Bibliothek. 1756 entdeckte Franz Anton Knittel unter dem Text die Reste älterer Handschriften, darunter Fragmente der gotischen Bibelübersetzung des Bischofs Wulfila aus dem 4. Jahrhundert. Diese Entdeckung gehört zu wichtigsten Quellen der frühen germanischen Sprachen.

Isidorus Hispalensis: Etymologiae, palimpsestierte Fragmente darunter Paulus-Briefe gotisch-lateinisch (Codex Karolinus), Pergamenthandschrift, 8. bzw. 5. u. 6. Jahrhundert. HAB: Cod. Guelf. 64 Weiss.

Nur in Wolfenbüttel gibt es ein vollständiges Exemplar des ersten gedruckten Buches in deutscher Sprache: Die aus dem 14. Jahrhundert stammende Fabelsammlung Der Edelstein ist zugleich das erste Buch, das mit Holzschnitt-Bildern gedruckt wurde.

Ulrich Boner: [E]Ins mals ein affe kam gera[n]t [Der Edelstein], Bamberg: [Pfister] 1461. HAB: A: 16.1 Eth. 2° (1)

Seit dem 18. Jahrhundert konnten Besucher*innen in Wolfenbüttel auch außereuropäische Buchformen bestaunen. Dazu gehören Palmblattbücher aus Südostasien. Wie diese Bücher in den Bestand kamen ist bislang unbekannt.

Palmblattbuch mit theologischem Text, Javanesisch (Sprache)/Balinesisch (Schrift), möglicherweise Lombok, 17. Jahrhundert. HAB: Cod. Guelf. 89.3 Aug. 4°

1983 wurde das Evangeliar Heinrichs des Löwen und Mathildes von England von einem nationalen Konsortium für umgerechnet 16 Millionen Euro in London ersteigert. Die um 1188 entstandene Handschrift zählt wegen ihrer prachtvollen Miniaturen zu den herausragendsten Leistungen mittelalterlicher Buchkunst. Um das teuerste Buch der Welt sicher aufbewahren und ausstellen zu können, erhielt die Herzog August Bibliothek einen dreistöckigen, begehbaren Tresor.

Evangeliar Heinrichs des Löwen und Mathildes von England, Pergamenthandschrift, Kloster Helmarshausen, ca. 1188. HAB: Cod. Guelf. 105 Noviss. 2°

Neun Handschriften aus der im frühen 16. Jahrhundert untergegangenen Bibliothek des ungarischen Königs Matthias Corvinus (1443–1490) konnte Herzog August im Laufe seines Lebens erwerben. Zusammen mit den anderen „Corvinen“ wurden sie 2005 in die Liste des Weltdokumentenerbes der UNESCO aufgenommen.

Bartolomeo Fonte: Opera, Pergamenthandschrift, Florenz, 15. Jahrhundert. HAB: Cod. Guelf. 43 Aug. 2°

Martin Luthers erste Publikation, ein Psalter für den Gebrauch in Vorlesungen an der Universität Wittenberg, hat sich nur in diesem einen – seinem persönlichen – Exemplar erhalten. Der durchgängig mit Anmerkungen versehene Wolfenbütteler Psalter steht seit 2015 auf der UNESCO-Liste des Weltdokumentenerbes.

Martin Luther (Hrsg.): Sepher Thehillim, Wittenberg: Rhau-Grunenberg 1513. HAB: A: 71.4 Theol.

1315, nach Abschluss seiner Bibelabschrift, hat sich der Mönch Sifridus Vitulus in Anspielung auf seinen Namen (vitulus, lat. Kalb) mit dem Kopf eines Rinds dargestellt.

Biblia sacra, Pergamenthandschrift 1315. HAB: Cod. Guelf. 1.3.1 Aug. 2°

Die niederdeutsche „Lübecker Bibel“ von 1494 besticht nicht nur durch hochwertige Holzschnitt-Illustrationen, sondern wegen des zynischen Kommentars zur Herrschaft des Mannes über die Frau: „un he schal aver dy herschope/ dy to pyneghende un to slade.“ – „Er soll dein Herr sein, um dich oft zu peinigen und zu schlagen“. Dass diese Bemerkung viel Aufmerksamkeit auf sich zog, bezeugt der angegriffene Zustand der Seite.

De Biblie mit vlitigher achtinghe, Lübeck: Arndes 1494. HAB: Bibel-S. 2° 105

Berühmt-berüchtigt war die sogenannte „Ehebrecherbibel“. Wohl vorsätzlich fehlte das Wort „nicht“ im sechsten Gebot, so dass Gott nun vermeintlich zum Ehebruch aufforderte. Fast die gesamte Auflage wurde eingezogen. Das in Wolfenbüttel erhaltene Exemplar ist von vielen staunenden Fingern stark abgegriffen und musste deshalb bereits restauriert werden.

Biblia, Das ist: Die gantze Heil. Schrift Altes und Neues Testaments, 34. Aufl., Halle: Waisenhaus 1731. HAB: Bibel-S. 102

Der kleinwüchsige Matthias Buchinger war 1674 ohne Hände und Füße geboren worden. Er verdiente seinen Lebensunterhalt u. a. durch die Vorführung von Zaubertricks sowie als geschickter Schreiber und Grafiker.

Matthias Buchinger: Kalender auf das Jahr 1715, Pergament, 1674. HAB: Cod. Guelf. 302a Blank.

Buchingers Zeichnungen waren an vielen europäischen Höfen begehrte Sammlungsobjekte.

Matthias Buchinger: Porträt des Johannes Calvin, farbig lavierte Federzeichnung, 1701, 17,9 × 12,5 cm. HAB: A 25626

Die Aura einer Verschwörung umweht die Schreibübung des vermeintlichen „Findlings“ Kaspar Hauser († 1833), den manche für den entführten Erbprinzen des Herzogtums Baden hielten.

Kaspar Hauser: Schreibübungen, 26. März 1844. HAB: Slg. Vieweg Nr. 664

16 von 348 Bänden der sogenannten Mazarinischen Handschriften, Paris, 1648–1654. HAB: Cod. Guelf. 3.1.1–Cod. Guelf. 3.1.298